Grenzland Advaita

Edi Mann   Kunst & Schrift


  

Der Grenzwächter

(Durchbrechen der torlosen Schranke)


1. Auflage Februar 2013

ISBN 978-3-930243-47-1


Für Lila;

das Spiel geht weiter,

mit oder ohne uns.



Der Weg selbst ist der wahre Führer,
doch niemand bezwingt ihn durch eine Regel.
Gib ihnen einen Namen, doch sie haben keinen Bestand.
Im Namenlosen des Nicht-Seins entstehen Himmel und Erde.
Im Namen-be-hafteten des Seins wohnt die Mutter aller Dinge.
Frei von Begehrlichkeit richte deinen Blick, und du wirst sehen:
die Feinheiten im subtilen Ur-Grund.
Mit absichtsvollem Tun begreife, und du wirst erkennen:
die Begrenztheit da draußen.
Zwei erscheinen, doch sie entstammen derselben Quelle,
ihr Unterschied, er beruht auf ihren Namen.
Finde in beiden das große Geheimnis.
Das Geheimnis im Geheimnis heißt ein Mysterium:
Durchschreite das Tor, und du erfaßt all seine Wunder.
– Laotse


Prolog



Wenn Anstrengungen notwendig sind, dann werden sie geschehen, und wenn es wichtig ist, daß keine Anstrengungen unternommen werden, dann wird auch das geschehen. Man braucht dem Leben nicht auf die Sprünge zu helfen. Fließe einfach mit ihm und gib dich völlig den Anforderungen des Augenblicks hin, was bedeutet, jetzt für das Jetzt zu sterben. Denn Leben bedeutet sterben. Ohne Tod gibt es kein Leben.

– Nisargadatta Maharaj



  Die Erinnerung an all diese Morde. Ich weiß nicht, wie viele es bis dato waren, denn der Versuch des Zählens scheint wie so vieles hier zum Scheitern verurteilt. Aber was sind auch schon Zahlen angesichts der Unendlichkeit? Der Tod und das Leben, hier fließen sie zusammen. Hier treffen und vereinigen sie sich, um zusammen in Erscheinung zu treten.

  Ob wohl all diese Erinnerungen als Ereignisse existent waren, bevor sie jetzt erinnert werden? Ist Erinnerung nicht so etwas wie ein Bewußtwerden? Und ist das Bewußtwerden nicht mit einem Erschaffungsprozeß gleichzusetzen? Aber hier scheint es gleichzeitig auch ein Vernichtungsprozeß zu sein. Existenzen, Personen aus Fleisch und Blut, Persönlichkeiten, Individuen... Hervorgebracht und vernichtet. Herausgeschöpft aus dem          Nichts und wieder hineingeschüttet.

  Was jetzt geschieht, ist Erinnerung, scheint immer nur Erinnerung gewesen zu sein. Erschaffung und Vernichtung. Gleichzeitiges Erschaffen und Vernichten. Zeitliches Geschehen, das in einem nichtzeitlichen Nichtgeschehen stattzufinden scheint. Aber dies ist eine andere Geschichte. Die Geschichte der Zeit. Hier soll die Story eines Mörders erzählt werden. Meine Story.


Der Mörder



Zwischen Mensch und Wahrheit liegt Ertötung.

 Soeren Kierkegaard


Es ist nicht die Person, die durch Selbstverwirklichung befreit wird, sondern es ist das verwirklichte Wesen, welches von der Person befreit wird.

– Bernard


  Ich bin ein Mörder. Ich würde jetzt nicht so weit gehen, dies als Beruf zu bezeichnen, obwohl sich doch so etwas wie eine Berufung feststellen läßt. Mit klaren und einfachen Worten: Ich fühle mich zum Töten, zum Morden          berufen. Im Vergleich mit einem Durchschnittsmenschen sieht es wohl so aus, als ob hier eine besondere Veranlagung dazu vorhanden ist. Und was könnte es Besseres oder Wichtigeres geben, als seine spezielle Veranlagung zum Ausdruck zu bringen? Wie auch immer, dieser Charakter hier scheint sich einfach dafür zu eignen.

  Ich weiß, dieses Tätigkeitsfeld genießt bei einem Großteil meiner Mitmenschen keinen besonders guten Ruf. Aber ich für mich selbst bin damit im Reinen. Moralische Bedenklichkeiten finden hier nicht statt, jedenfalls nicht mehr. Und da ich mittlerweile auf eine lange Erfahrung und genügend Geschicklichkeit in diesem Metier zurückgreifen kann, ist auch von der anderen Seite aus nichts zu befürchten. Wobei sich in letzter Zeit von dieser anderen Seite aus überhaupt nichts mehr tut. Da zahlt sich dann die Diskretion aus, die natürlich das A und O ist, um in diesem Geschäft erfolgreich bestehen zu können.

  Hier wurden viele getötet. Manche eigenhändig, andere wurden in den Selbstmord getrieben. Einige der Opfer boten einen langen und erbitterten Widerstandskampf, andere waren schon so gut wie tot, als sie hier ankamen. Die lange Suche nach diesem Ort hier, dem Grenzland, hat ihre Zuversicht zermürbt und ihre Energie verbraucht. Vielleicht sind sie auch ganz bewußt zum Sterben hierhergekommen. Ich weiß es nicht. Viele Dinge liegen im Dunkeln, und hier ist kein Verlangen danach, sie ans Licht zu holen.

  Die Kämpfer waren mir eigentlich immer am liebsten. Die Widerspenstigen, die Guerillakämpfer, die alles auf die Waagschale werfen, sich ganz einbringen. Obwohl die besten Jobs natürlich die waren, bei denen man mein Eingreifen, meine Anwesenheit, gar nicht bemerkte. Aber als was auch immer sich der Gegner herausstellte, ihm wurde Respekt entgegengebracht. Respekt dafür, es bis hierher, ins Grenzland geschafft zu haben. Na ja, so gut wie immer. Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel. Ein Tätigkeitsfeld wie dieses erfordert eine besondere Geschicklichkeit und auch viel Improvisationstalent, jedenfalls wenn es auf meine Art und Weise betrieben wird. Es gilt, sich vollständig auf seinen Gegner einzulassen, ihn ebenso gut wie sich selbst kennenzulernen. Seine Gewohnheiten, seine Eigenarten, seine Stärken und Schwächen müssen bestmöglich studiert und analysiert werden.

  Dieses Sich-Einlassen auf die einem anfangs oft völlig fremde Person kann manchmal so weit gehen, daß diese zu einem Bestandteil von einem selbst zu werden scheint. Aus dem Kennenlernprozeß entwickelt sich langsam eine Art Verschmelzungsprozeß. Dies ist meist eine kritische Phase, weil nun der Vernichtungsangriff ins Spiel kommen muß. Bevor der Vereinigungsprozeß abgeschlossen ist, muß das Schwert gezückt und zugeschlagen werden. Da gilt es, das eigene Herz zu verhärten, sein Mitleid und sein Verständnis zu ignorieren und zuzuschlagen.

  Diesen ganzen Prozeß kann man auch als einen Prozeß des Pirschens bezeichnen, ein Sich-Heranpirschen an sein Opfer. Es ist die hohe Kunst der Kriegsführung. In gewissem Sinne ist meine Vorgehensweise der eines Raubtiers nicht unähnlich. Die Beute aufspüren, sie anpirschen, sie beobachten, ihre Verhaltensweisen und Gewohnheiten kennenlernen und sie dann im geeigneten Moment töten. Obwohl ich mich selbst nicht unbedingt als einen Krieger betrachte, beherrsche ich doch die Kunst der Kriegsführung. Was in diesem Metier wohl auch unerläßlich ist.

  Ich weiß nicht, aus welchen Gründen, mit welchen Absichten die Personen hierherkommen. Manche machen einen getriebenen Eindruck, andere scheinen irgendwelchen Verlockungen hinterherzujagen. Es gibt auch welche, die, woher auch immer, von mir und dem Grenzgebiet gehört haben und sich daraufhin ganz gezielt auf die Suche hierher machten. Diese kamen wohl aus eigenem Antrieb, sei es nun der reinen Neugierde wegen oder mit der festen Absicht, mich herauszufordern. Wobei so manchem erst ziemlich spät klar zu werden scheint, daß es hier im Grenzland immer um Leben oder Tod geht.

  Hin und wieder gerieten Personen auch ganz zufällig hierher. Obwohl: was bedeutet schon zufällig? Ich will und kann eine tiefere oder von mir aus auch höhere Instanz nicht ausschließen, die dies alles in die Wege leitet. Vielleicht hat dies alles eine umfassendere Bedeutung, die          sich mir nicht erschließt. Aber darüber weiß ich nichts. Und es ist wohl auch nicht meine Bestimmung, etwas darüber zu wissen. Was kümmert mich im übrigen die Herkunft oder die Geschichte der hier Ankommenden? Was kümmern mich ihre Beweggründe, hier zu erscheinen? Wichtig für mich ist einzig und allein ihr Erscheinen hier bei mir.



Der Grenzwächter I (Vergangenheit)


Du kannst die Wahrheit nicht erfahren, wenn du weiterhin deine Geschichte erzählst, und du kannst deine Geschichte nicht weitererzählen, wenn du die Wahrheit erfährst.

– Gangaji



Einzig die Hilfe, die vom Bedürfnis nach weiterer Hilfe befreit, ist es wert, geleistet zu werden. Hilfe, die wiederholt werden muß, ist keine Hilfe. Rede nicht davon, einem anderen helfen zu wollen, bevor du ihn nicht jenseits aller Bedürfnisse nach Hilfe bringen kannst.

– Nisargadatta Maharaj


  Etwas über meine Vergangenheit zu erzählen ist mir kaum möglich, denn da gibt es nichts, was mit Sicherheit darüber gewußt wird. Erinnerungsfragmente, von denen nicht einmal klar ist, ob es sich um meine eigenen Erinnerungen, um meine eigene Vergangenheit handelt. Da scheint es keine persönliche Geschichte zu geben, und die sporadisch auftauchenden Bruchstücke können nicht in Zusammenhang gebracht werden. Sie enthalten keine Kontinuität.

  Meine eigene Geschichte liegt vor mir wie ein dunkler, sich bis in die Unendlichkeit ausdehnender Ozean. Die Oberfläche schimmert wie mit geschmolzenem Silber überzogen, das einen nicht vorhandenen Nachthimmel reflektiert.

  Nicht immer zeigte sich dieser Ozean so still und unbewegt. Es gab Zeiten, in denen sich aus seinen öligen Tiefen ganze Welten erhoben, angefüllt mit den unterschiedlichsten Ereignissen und Gestalten. Sturmgepeitschtes Wasser mit haushohen Wellen riß mich mit in immer neue Episoden des Seins. Die Fluten griffen mit gierigen Klauen nach mir, erfaßten und entführten mich in Geschehnisse hinein, die ich für die Wirklichkeit hielt. Heute weiß ich, daß es die Schatten der Vergangenheit waren, die mich in Welten voller Schrecken, aber auch voller Verheißungen hineinzogen.

  Dazwischen gab es auch wieder Zeiten der Ruhe, trügerische Momente, in denen ich mich leer und ausgebrannt am Ufer liegend wiederfand. Ausgespuckt von diesem Ungeheuer, das nun so still und harmlos wie heute vor mir lag. In seinen Tiefen lauerten keine raffgierigen Bestien mehr, sondern ein ewiger Gleichmut und Frieden in seinem Zentrum schien die Wogen zu glätten. Doch der nächste Sturm, der sich meist mit einer          leichten, kaum wahrnehmbaren Brise ankündigte, ließ nicht lange auf sich warten. Diese Schatten einer vorgestellten, einer zwischen mich und das Leben gestellten Vergangenheit, forderten ihren Tribut ein. Der Preis war nicht weniger als mein Leben, das sie sich zu eigen machten.

  Dieser Ozean setzt sich nicht nur aus meiner eigenen Vergangenheit zusammen, er scheint die Geschichte aller jemals existierenden Wesenheiten zu enthalten. Traumgebilde, Vorstellungswelten. Es ist müßig, wenn nicht sogar sinnlos, in diesen Illusionsgebilden etwas Wahres finden zu wollen, etwas Hilfreiches für das Leben hier und jetzt. Mit Hinweisen und Ratschlägen sind diese Phantome zwar schnell zur Hand, aber ihre Unbeständigkeit und Unaufrichtigkeit ist ziemlich leicht zu durchschauen. Wendemäntel, Fahnen im Wind. Obwohl ihr Vorhandensein natürlich auch etwas Tröstliches haben kann. Immerhin gaben sie meinem Dasein eine Zeitlang Kontinuität, gaben ihm Wirklichkeit. Damals, als noch ein unermüdliches Bemühen stattfand, mir meine eigene Existenz zu beweisen. Doch das ist lange her.

  Irgendwann wurde dieser ganze Mummenschanz dann durchschaut, woraufhin ihm seine Wichtigkeit, und damit einhergehend auch sein Wirklichkeitsanspruch, genommen wurde. Die Erscheinungen verloren ihre Glaubwürdigkeit, aber auch ihren Schrecken. Es waren meine eigenen Gespenster, mit denen ich das Universum bevölkert hatte. Letztlich fand nicht mal eine Schlacht statt. Beim genauen Hinschauen lösten sie sich in das auf, was sie wirklich waren. Mit der Befreiung von diesen Anhaftungen kam dann auch die Erkenntnis, daß es gar niemanden gibt, nie  jemanden gegeben hat, an dem sie hätten haften können. So gab es vielleicht eine Befreiung, aber niemanden mehr, der befreit wäre.

...


Der Grenzwächter II (Vergangenheit)


Schlepp die Vergangenheit nicht in den Taschen herum, denn sie existiert nur im Gedächtnis, wo die Toten tanzen.

– Papaji

Erinnerungen und Gedanken haben wie die Wolken am Himmel weder einen Ort, wo sie entstehen, noch einen Ort, wo sie verweilen, noch einen Ort, wo sie sich auflösen – sie sind wurzellos.

– Drogön Schang


  Nicht, daß mein Alleinsein mit Einsamkeit zu verwechseln wäre. Denn einsam war ich nie. Bis vor kurzem befand ich mich zum Beispiel noch in Gesellschaft zweier außergewöhnlicher Gesellen. Aber was bedeutet hier schon seltsam oder außergewöhnlich. Der Begriff “einzigartig“ gefällt mir in diesem Zusammenhang eigentlich besser. Wenn ich mir so eine Art Seltsamkeitsskala vorstelle, dann wären so gut wie alle, die mir hier begegnen, ziemlich weit am extremen Ende angesiedelt. Aber vielleicht befinden sich diese Personen auch im normalen Bereich, und ich selbst stelle den extremen Bereich dar. Obwohl ich bezweifle, mich überhaupt auf dieser Skala zu befinden. Es kommt einer Tatsache wohl näher, die ganze Skala zu sein, die ich nicht geworden bin, sondern immer schon war. Normalitätsskala, witzige Sache. Oder doch eher irrwitzige Sache.


  Hier wurde einmal eine junge Frau vorstellig, die sich sehr um mich und meine Art, durchs Leben zu gehen, zu bemühen schien. Obwohl, wenn ich von einer “jungen“ Frau spreche, kann das mißverstanden werden. Vielleicht wäre es an diesem Punkt angebracht, die Relativität miteinzubeziehen. Hier im Grenzland scheint ja alles relativ zu sein.

  Erneuter Anfang: Hier wurde einmal eine relativ junge Frau vorstellig...

  Nein, auch das trifft es nicht. Genau betrachtet hat hier nicht einmal die Relativität Gültigkeit. Im ewigen Jetzt gibt es nichts, was in Beziehung zu etwas anderem gesetzt werden könnte. Ich zum Beispiel bin alterslos. Alles hier ist alterslos. So etwas wie “alt“ oder “jung“ gibt es doch nur, wenn man es in Beziehung zu etwas anderem setzt, man also wieder eine fiktive Skala bemüht. In diesem Fall eine Relativitätsskala. Da findet der Versuch statt, der Realität eine Relativität überzustülpen, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt.

  Was gibt es hier also wirklich? Doch nur das Erscheinende. Und das erscheint alles jetzt, in diesem Moment, ist also völlig alterslos. Wenn also die junge Frau dem alten Mann erscheint, treten sie beide jetzt in Erscheinung und sind in Wirklichkeit gleich alt. Gleich alt wie alles andere mit ihnen Erscheinende, also in Wahrheit alterslos.

  Wagen wir noch einen dritten Versuch: Hier wurde einmal...

  Nein, es scheint unmöglich, die Wirklichkeit in Worte zu fassen. Aber egal, hier wird ja auch nur eine Geschichte erzählt, und in Geschichten muß keine Wirklichkeit vorhanden sein. Kann vielleicht gar keine Wirklichkeit vorhanden sein.

  Also dann halt ohne Wirklichkeitsanspruch weiter mit der Erzählung. Diese mir penetrant neugierig und aufdringlich erscheinende junge Frau (sie selbst sah sich natürlich mit völlig anderen Eigenschaften wie “mitfühlend“, “besorgt“, “hilfsbereit“ etc. begnadet), stellte mir unter anderem die Frage, warum ich nicht einfach „normal“ sein könne. So wie die anderen, nicht immer so ... anders. Woraufhin ich mir die anderen einmal genauer anschaute. Tja, was soll ich sagen, sie waren weit weniger normal als ich selbst. Und da es mir verwehrt ist, in eine mir abnormal erscheinende Rolle zu schlüpfen, werde ich wohl weiter abnormal für die anderen bleiben. Übrig bleibt die Erkenntnis: so ganz normal sind wir wohl alle nicht. Wobei ich eigentlich überhaupt nicht weiß, was diese sogenannte Normalität überhaupt ist. Wenn es wirklich so gewesen sein sollte, daß ich mich irgendwann einmal von der sogenannten Normalität wegbewegt habe, dann ist hinter mir die Tür zugefallen.

  Früher mußte meistens so eine Art kontrollierte Maskenhaftigkeit herhalten, um klarzukommen. Es schien die einzige Möglichkeit, um in der Vorstellungswelt oder bei Interaktionen mit den Mitmenschen funktionieren zu können. Das große Täuschungsmanöver diente der Verschleierung des Herausfallens aus der sogenannten Normalität vor den anderen und sogar vor mir selbst. Aber seit ich hier im Grenzland bin, werden die Verkleidungen immer weniger gebraucht, die Masken haben ihren Sinn und Zweck verloren.

  Diese aufgesetzten Masken oder Persönlichkeiten sind doch nichts weiter als der Schein von einem wahren Licht. Ein Abglanz. Ein Abglanz des Lebens selbst. Sie haben keinerlei eigene Leuchtkraft. Eben nur Schein. Deshalb wohl auch das seltsame Bemühen der Maskenträger, im Licht zu stehen, sich anscheinen zu lassen. Ein Versuch, auf diese Weise die eigene Lichtlosigkeit zu verbergen. Aber wenn etwas beschienen wird, wirft es auch einen Schatten. Nur das wahre Licht, die Lichtquelle selbst, ist als einziges schattenlos. Alles andere, das, was beschienen wird, schleppt auch einen Schatten mit sich herum. Das Wahre kennt keinen Schatten. Nur das “Falsche“, das Angeschienene, sieht sich mit seinem eigenen Schatten konfrontiert. Obwohl es im Licht stehen will, ist es gezwungen, in einer Schattenwelt zu leben.

  In letzter Zeit stellt sich des öfteren die Vision eines solchen Lichtes ein. In dunklen Nächten ist es weit südlich von hier als schwacher Glanz wahrzunehmen. Es könnte sich um einen Leuchtturm handeln, da das Licht, das von ihm ausgeht, zu pulsieren scheint. Wenn meine Arbeit hier erledigt ist, wenn mich nichts mehr an das Grenzland bindet, werde ich mich wohl aufmachen, um zu sehen, was es mit dieser Lichterscheinung auf sich hat.

  Doch zurück zu der Zeit, als wir zu dritt diese Gegend hier bewohnten. Wann war das? Vor Jahren, gestern, oder waren wir nicht heute morgen noch beisammen? Ich weiß es nicht. Die Zeit verblaßt, Ereignisse werden zu Erinnerungen, und Erinnerungen entwickeln sich zu Ereignissen im Jetzt. Die Zeit selbst scheint sich ihrer Relativität bewußt geworden zu sein und kümmert sich nicht mehr um Kontinuität und Berechenbarkeit. Nachdem sie lange ihre Verläßlichkeit und Unbestechlichkeit zu beweisen versuchte, hat sie sich letztlich doch als Illusion geoutet.

  Die Dinge lösen sich auf wie der Morgennebel, der hier für gewöhnlich die Umgebung in eine diffuse Milchsuppe taucht. Eine für das Auge undurchdringbare weiße Wand, aus der plötzlich etwas hervorzubrechen scheint, das aber im nächsten Moment schon wieder verblaßt.

  So war es auch mit den beiden Gefährten, die mir eine Zeitlang Gesellschaft leisteten. „Gefährten“ ist eine gute Bezeichnung. Wir befanden uns auf einer Fährte. Und da sie mit mir zusammen waren, scheinen wir auf derselbem Fährte gewesen zu sein. Ich suchte den “wahren Menschen“, sie suchten sich selbst als Wahrheit zu beweisen. Aber Fährten gibt es hier nicht mehr. Die Wahrheit wurde zu einem weglosen Land. Auch die Gefährten sind nicht mehr. Ich habe sie getötet. Ich bin ein Mörder.


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